Siedlung Neuhausen – immer noch gefragt

„Ewiges Licht“ steht über der Kneipe am Eingang der Siedlung Neuhausen. „Ewig“ ist etwas übertrieben, aber noch in diesem Jahrzehnt feiert die Siedlung ihr hundertjähriges Bestehen. Und die Attraktivität der Mietswohnungen ist ungebrochen hoch.

Ein Hauch von Fortschritt im reaktionären München der 20er

Man sollte sich in die Zeit der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückversetzen, um zu verstehen, was da in Neuhausen unter der Leitung des Architekten Hans Döllgast in den Jahren 1928-31entstand. Die Hyperinflation hatte 1923 ihren Höhepunkt und ihr Ende gefunden, es ging wirtschaftlich wieder aufwärts. Und es wuchsen nach all den rechtsradikalen Umtrieben auch zarte Pflänzchen des politischen und kulturellen Fortschritts. Das Deutsche Museum als Hort der Wissenschaften wurde 1925 eröffnet, Kinopaläste gebaut usw.

Der Fortschritt zeigte sich ebenso in den Architekturformen. Das Münchner Alte Technische Rathaus mit 12 Stockwerken und einer Höhe von 45 Metern entstand (Karl Valentin nannte es einen Wolkenkratzer nach New Yorker Vorbild), die Siedlung Borstei und eben die Siedlung Neuhausen. Der damalige Bürgermeister Scharnagel gewann amerikanische Investoren für den Kopfbau der Siedlung Neuhausen („Amerikanerblock“) und der Stadtrat benannte Straßen und Plätze in der Siedlung nach bekannten Amerikanern (Steubenplatz). Leider währte diese kurze Blütezeit in München nicht lange: 1933 wurde die Stadt zur „Hauptstadt der (nationalsozialistischen) Bewegung“ ausgerufen.

Klassiker der Moderne

Für die städtische Wohnungsbaugesellschaft Gewofag, heute größter Vermierter der Stadt, war es das erste Großprojekt: 1.900 Wohnungen mit Bädern entstanden, dazu Geschäfte und Lokale. In die Realisierung wurden verschiedene Architekten eingebunden. Dadurch erhielt die Siedlung Neuhausen unterschiedliche Fassaden, weshalb sie noch heute sehr aufgelockert wirkt. Den sogenannten Amerikanerblock, inzwischen ein Klassiker der Moderne und unter Denkmalschutz, verzieren klinkerverkleidete, geschwungene Balkone. Die schlichter gehaltenen Gebäudezeilen, damals noch am Stadtrand befindlich, sind in Nord-Süd-Richtung angelegt, wodurch die Wohnungen und Balkone morgens und abends das Sonnenlicht abbekommen. Mit der Generalsanierung vor fast zehn Jahren installierte die Gewofag (die heutige Energiekrise wohl vorausahnend) auf den Dächern über 10.000 qm Solarzellen.

Soziale Bedeutung

Nicht zu unterschätzen ist die soziale Bedeutung dieses fast hundert Jahre alten Wohnungsbaus in städtischem Besitz. Die Wohnungen sind inzwischen saniert und auf dem Münchner Mietmarkt sehr begehrt. Ob Paketausfahrer, Verkäuferinnen, Lagerarbeiter, Reinigungskräfte usw.: sie alle brauchen im teueresten Mietmarkt der Republik einigermaßen bezahlbaren Wohnraum. Als die Siedlung Neuhausen Ende der 20er Jahre gebaut wurde, bestand Wohnungsnot in München. Und heute? Wie sich die Geschichte doch wiederholt.

Übrigens: die Kneipe „Ewiges Licht“ samt Biergarten ist wie die Siedlung einen Besuch wert.

Weitere Blogs zu bekannten und weniger bekannten Münchner Orten und Schauplätzen:
Petticoat & Nierentisch
Sankt-Jakobs-Platz
Schwabinger Jugendstil
Münchner Freiheit
Kanalwärterhäuschen

 

6 Gedanken zu “Siedlung Neuhausen – immer noch gefragt


  1. Lieber Jürgen,
    ein sehr interessanter Artikel! Es ist längst wieder an der Zeit, dass es mit dem Bau erschwinglicher Mietwohnungen wieder vorangeht.
    Liebe Grüße Horst

Kommentar verfassen